Hicran & Hakan: Eine deutsch-türkische Hochzeit auf der Palliativstation

RAVENSBURG/WEINGARTEN – An seinem 49. Geburtstag erwachte Hakan Karakaya wie schon die Wochen zuvor in einem Zimmer auf der Palliativstation im St. Elisabethen-Klinikum. Er leidet an einer schweren Krebserkrankung. Auf einen Kuchen konnte sich der gebürtige Reutlinger nicht freuen. Seine Nährstoffe erhält er mittels eines Ports, Magen und Darm können Essen nicht mehr verarbeiten. Parenterale Ernährung, heißt es in der Fachsprache.

Der Tag sollte Hakan Karakaya eine schönere Überraschung bringen. Wichtiger als alles andere war und ist ja: Er ist nicht allein. Am Mittag sollten Freunde und Familie kommen, und neben Hakan saß wie immer seine Verlobte Hicran aus Weingarten und hielt ihm die Hand. Bald reichte die 44-Jährige ihm ein Kästchen mit einem Bild darauf aus unbeschwerten Tagen, in der eine Art Daumenkino verborgen war. Viele nette Worte und einige neugierige Fragen standen auf den Seiten. „Herzlichen Glückwunsch. Ich liebe Dich. Liebst Du mich auch? Ich möchte, dass Du mein Ehemann wirst. Möchtest Du das auch? Wie wäre es denn dann um 14.30 Uhr?“ Hicran machte Hakan auf romantische Art einen Antrag, er sagte zu jeder Frage ja, bis sie beide weinten. Den Standesamtsantrag hatten sie schon Wochen zuvor eingereicht, aber dass es nun im EK geschehen sollte, damit hatte der Bräutigam nicht gerechnet. Auch Freunde und Familie staunten nicht schlecht, als sie am Nachmittag zu einer Hochzeits- statt zur Geburtstagsfeier kamen.

Eine klassische türkische Hochzeit mit hunderten Menschen, endlosem Büfett, wilden Tänzen und lauter Musik war es natürlich nicht. Doch die Pflegefachkräfte Anette Härtel und Jessica Keppert der Palliativstation C41, die seit Tagen eingeweiht waren, hatte den Aufenthaltsraum, den man mit Raumtrennern zum Separee machen kann, so liebevoll wie möglich dekoriert. Mit Kerzen, Blumen, Tüchern, Luftballons, selbstgehäkelten Glücksbringern und einem türkischen Hochzeitsspruch, den Anette Härtel aufgemalt hatte: „Bir yastıkta kocayın“ - „Möget Ihr bis ins hohe Alter ein Kopfkissen teilen.“ Es wurde eine ungewöhnliche Hochzeit vor der Ravensburger Standesbeamtin Karin Bauknecht: Hicran, die dringend ein künstliches Kniegelenk braucht, lief im weißen Kleid und auf Krücken zu ihrem Hakan, der ohne Infusionen und im blütenreinen weißen Hemd fast gesund wirkte. Umso mehr ging sie den Gästen ans Herz. „Seit fünf Wochen weicht sie nicht von seiner Seite, sie ist immer für ihn da“, sagt Anette Härtel. „Wie groß diese Liebe ist, das ist wunderschön zu sehen.“

Genauso wie die Worte, die das Paar füreinander findet. „Hicran ist unglaublich lebensfroh. Sie hat großen Humor und lacht wahnsinnig gerne. Wie sagt man: Das Kind in ihr ist noch nicht gestorben“, sagt er über sie. „Er beruhigt mich, er strahlt immer Gelassenheit aus. Ich bin so ein Typ, der ständig hin und herrennt. Alles muss schnellschnell gehen, aber Hakan erdet mich“, sagt sie über ihn.

Seit fünf Jahren sind sie zusammen, für beide ist es die zweite Ehe. Bis Hakan Karakaya im Oktober die Krebsdiagnose bekam, führten sie eine Wochenend-Beziehung, fern und doch nicht weniger nah. „Wir wollten schon viel früher heiraten, dann kam Corona, dann musste er das Haus renovieren, nun wurde er krank“, erzählt sie. „Wir wollten uns davon nicht mehr aufhalten lassen, die Dinge nicht weiter aufschieben. Als die Standesbeamtin sagte, sie könne bei einer nachgewiesen lebensbedrohlichen Krankheit auch in die Klinik kommen, und die Station so hilfsbereit war, war mir klar: Wir machen das jetzt, ich versuche das“, sagt Hicran Karakaya.

Nach der Entlassung wird sie ihren Mann, der zuletzt bei Schwörer-Haus arbeitete, bei sich aufnehmen und versorgen – fachkundig, denn die 44-Jährige ist gelernte Altenpflegerin. „Keine Angst, ich habe das im Griff“, sagt sie, als die Pfleger und Ärzte ihr die Funktion des Ports erklären wollen. In jenem Moment, als sie von seiner Krankheit erfuhr, nahm sie die Organisation der Behandlung in die Hand: Ärzte- und Klinikgänge, Termine und das Besorgen von Hilfsmitteln. Gemeinsam nahmen beide den Kampf auf, von der Krankheit wollen sie sich ihre Ziele nicht rauben lassen: „Wir träumen davon, die Türkei von Osten nach Westen zu durchreisen und all das dort mit eigenen Augen zu sehen, von dem wir immer nur gehört haben.“ Beide sind in Deutschland geboren, es wird Zeit, das Land der Vorfahren zu erkunden.

Auf der C41 hören sie es mit Freude - und mit Stolz. „Es stört uns sehr, dass wir von manchen als Sterbestation bezeichnet werden, das sind wir nicht. Natürlich sind unsere Patienten schwer krank, aber es ist eben nur ein Drittel, das den Kampf gegen die Krankheit hier verliert. Viele können ins häusliche Umfeld zurück oder in ein Pflegeheim, immerhin 40 Prozent bringen wir nach Hause“, sagen Anette Härtel und Stationsleiter Florian Karrais und zitieren Cicely Saunders, die englische Ärztin und Pionierin der Palliativpflege. „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben. Es geht immer um Lebensqualität bei uns und um Selbstbestimmung. Wir sind keine Sterbestation, wir sind eine Lebestation.“

Deshalb unterstützt die Palliativstation auch alle Pläne der Patienten, spricht Mut zu, hilft, wo sie kann, sorgt sich dafür, dass das Leben lebenswert bleibt, kümmert sich um das psychische, spirituelle Wohl der Patienten. Die Hochzeit der Karakayas sei bereits die vierte in ihren fünf Jahren am EK gewesen, trotz Corona, sagt Anette Härtel. „Wir machen so vieles hier: planen Geburtstagsfeiern, haben Physio-, Musik-, Entspannungs- und Aromatherapie auf der Station, bieten Fußreflexzonenmassagen an und planen mit dem OSK-Team von „Clinic Home Interface“ die weitere ambulante Versorgung. Wir wollen die Menschen hier im Leben abholen, nicht nur in ihrer Krankheit. Wir möchten nicht, dass sie hier die Hoffnung verlieren, im Gegenteil: Sie sollen bei uns wieder Zuversicht gewinnen.“

So wie die Karakayas. Eine Operation und 14 Chemotherapien hat Hakan Karakaya nun hinter sich, aber das Brautpaar möchte weiterleben, so gut und schön und mutig es geht, frei nach Shakespeare: Denn Liebe wagt, was irgend Liebe kann. „Keiner von uns weiß doch, was morgen ist“, sagt Hicran Karakaya. „Keiner weiß, ob plötzlich etwas passiert, wenn man zur Tür rausgeht, und ob man morgen noch da ist. Deshalb sollte man jede Minute, die man zusammen hat, genießen. Und das werden wir tun.“