Eiszeit als Auszeit: OSK-Ärztin Julia Gutting und ihr Leben in der Antarktis
Ravensburg – Das Gefühl, mutterseelenallein zu sein, fernab von jeder Zivilisation, kann überwältigend sein. Vor allem dann, wenn man Leben spürt in der Antarktis, wenn hinter einer Bucht plötzlich dösende Weddelrobben auftauchen oder eine Kolonie von 30.000 quicklebendigen Kaiserpinguinen. Kürzlich habe sie das gespürt, erzählt Julia Gutting. Manchmal sammelt sie verlassene, erfrorene Eier auf, die den Pinguinen von den Füßen gekullert sind. In der Heimat wird die Dichte der Schalen gemessen und damit der Einfluss der Klimaerwärmung auf die Spezies. Eigentlich eine eher traurige Aufgabe, irgendwann aber sei ein Pinguin so hocherfreut auf sie zugewankt, dass sie zurückweichen musste. „Für uns sind 30 Meter Sicherheitsabstand vorgeschrieben“, erzählt Julia Gutting lächelnd, „aber die Pinguine wissen das nicht und nicht alle halten sich daran. Sie haben noch nie einen Menschen getroffen, manche haben offenbar Vertrauen zu uns.“ Es sind diese Erlebnisse, für die sie hierherkam. „Alleine vor einer Riesenkolonie Pinguine zu sein, alleine am Meer vor einem Eisberg zu stehen, das ist schon unglaublich.“
Seit Ende Februar ist das Meer wieder zugefroren, 40 Forscher sind abgereist, und Julia Gutting ist noch mehr von der Außenwelt isoliert als zuvor. Kein Flugzeug, kein Schiff kann die 45-Jährige mehr erreichen, acht Monate lang ist die Neumayer-III-Station, die vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven betrieben wird, vom Rest der Welt abgeschnitten. Der Winter hat die Antarktis wieder in Besitz genommen, die Temperatur wird nun stetig fallen, auf bis zu 49 Grad Minus. Zwei Monate wird es stockdunkel sein, nur die Polarlichter werden die Polarnacht ein wenig aufhellen. Immerhin: Ganz allein ist Julia Gutting nicht, und ihr Team ist auf die unwirtlichen Bedingungen vorbereitet, auf die klirrende Kälte und auf tagelange Schneestürme, die mit bis zu 200 km/h über die Eiswüste fegen und drei Meter hohe Schneeberge werfen. Zusammen mit acht weiteren Mitarbeitern – zwei Geophysikern, einem Meteorologen, einem Luftchemiker, zwei Technikern, einem ITler/Funker und einem Koch – hält Julia Gutting die Stellung auf dem Schelfeis, und sie ist sogar die Chefin des Teams. Gutting ist Stationsärztin und Stationsleitung in einem, nur, dass Stationsleitung auf einer Polarstation in der Antarktis etwas ganz anderes bedeutet als im St. Elisabethen-Klinikum in Ravensburg.
Vor dreizehn Jahren kam Julia Gutting, die in Freiburg, Kuopio/Finnland und Konstanz Medizin studiert hat, als Ärztin an die Oberschwabenklinik, zuerst in der Allgemeinchirurgie, dann in der Anästhesie. Im Sommer 2024 wurde die gebürtige Freiburgerin zwei Jahre lang für das Abenteuer ihres Lebens freigestellt. „Ich habe lange überlegt, ob ich Biologie studieren soll, ich war schon immer sehr neugierig und fasziniert von Expeditionen, auch von kälteren Gebieten, vom Meer, war schon mit Orcas in Norwegen schnorcheln“, sagt sie. „Als ich vor Jahren die Ausschreibung der Antarktis-Stelle, dachte ich: Da bewirbst du dich eines Tages. Weil ich keine Kinder habe, habe ich die Möglichkeit dazu. Und als ich meinen Facharzt absolviert hatte, war der perfekte Zeitpunkt gekommen.“ Gleich beim ersten Versuch wurde sie - nach einem gründlichen Check ihres Profils – ausgewählt und bat die OSK um eine Sabbatzeit. Personalchef Raimund Alker gewährte sie gerne: „Selbstverständlich haben wir Frau Gutting diesen Traum ermöglicht. Wir wissen, dass die Neumayer III in ihr eine sehr gute ärztliche Verstärkung erhält und sind sicher, dass sie dort wertvolle Kenntnisse und Erfahrungen mitnehmen wird. Schon jetzt freuen wir uns auf ihre Rückkehr an die OSK und sind neugierig, was sie dann zu berichten hat.“ Julia Gutting ist dankbar für die Unterstützung: „Es ist großartig, dass die Oberschwabenklinik mir das ermöglicht hat.“
Nach der Zusage ging die Arbeit allerdings erst los, denn die Ärztin besaß naturgemäß noch nicht alle Kenntnisse und Fertigkeiten, die man als Chefin einer Antarktisstation benötigt. Vier Monate dauerte die Vorbereitung, es war ein Crashkurs. Julia Gutting hospitierte in der Klinik Bremerhaven-Reinkenheide, in der Charité in Berlin und wochenlang auch in einer Zahnarztpraxis, weil sie in ihrem neuen Job auch Wurzelbehandlungen ausführen muss. Sie bekam psychologische Schulungen, besuchte Brandschutzkurse und Teambuilding-Maßnahmen, zeltete auf dem Gletscher und lernte das Klinikum Bremerhaven kennen, das ihr telemedizinisch zugeschaltet ist, falls die Ärztin allein in der Antarktis ein Problem hat. Julia Gutting ist also gerüstet, und sie ist auch ausgerüstet. „Wir haben hier die wichtigsten medizinischen Geräte, einen C-Bogen und auch einen OP-Saal, und ich könnte mir jederzeit Hilfe holen – wenn ich ein unklares Ultraschallbild habe, ist es in drei Sekunden in Bremerhaven und kann dort von Spezialisten begutachtet werden“, sagt Gutting, die von ihrer Vorgängerin zwei Monate lang eingearbeitet wurde. Theoretisch könnte Julia Gutting also auch Blinddärme und Leistenbrüche operieren, in der Praxis ist sie allerdings eher Hausärztin. „Im Normalfall haben wir es mit Erkältungen oder Ohrenschmerzen zu tun, also kleineren Erkrankungen.“
Komplexer sind dagegen die medizinischen Studien, die sie verantwortet. „In Zusammenarbeit mit der Charité und der LMU München untersuchen wir, wie die Isolation in der Antarktis auf unser Immunsystem wirkt“, sagt Julia Gutting. Regelmäßig prüft sie deshalb die Blutwerte der Mitarbeiter und misst zudem, wie sich angesichts der dauerweißen Umgebung das 3-D-Sehvermögen des Teams ändert. Die Veränderungen könnten in der Tat frappierend sein. Frühere Studien haben ergeben, dass etwa der Hippokampus, der im Gehirn für das Gedächtnis zuständig ist, in der Isolation um zehn Prozent schrumpft. Nach dem Polarwinter erholt er sich allerdings wieder.
In ihrer Funktion als Stationsleiterin ist Julia Gutting eine Art Ärztin für alles. Alle Informationen über Pläne, Tätigkeiten und To-Dos der Besatzung fließen bei ihr zusammen. Sie steuert, koordiniert, kommuniziert und organisiert, entnimmt als Hygienechefin auch Wasserproben, kontrolliert den Zustand der Landebahn und die Beflaggung der Wege, die das Team mit seinen Skidoos benutzt. Auch über die Studien in den vier Observatorien - die Meteorologen etwa lassen in der reinsten Luft der Atmosphäre regelmäßig Ballonsonden aufsteigen, die in 500 Meter Höhe alle klimarelevanten Gase aufspüren – ist Julia Gutting exakt im Bilde. „Im Prinzip mache ich hier zwanzig Jobs auf einmal“, sagt sie, „aber exakt das ist der Reiz und die Herausforderung.“
Eine Herausforderung, die allerdings zeitlich begrenzt ist. Jedes Jahr wechselt das Stationsteam durch, aus Gründen der Teamhygiene. Julia Gutting versucht, die begrenzte Zeit in der Antarktis bewusst wahrzunehmen, die Auszeit in der Eiszeit zu genießen. Dazu gehört auch, so wenig wie möglich im Internet zu sein. „Natürlich hält man Kontakt zu Freunden und Angehörigen, aber ich versuche, es knapp zu halten. Ich möchte fühlen, wie das Leben hier auf mich wirkt, schauen, was die Antarktis mit mir macht“, sagt sie. Das Buch einer Vorgängerin über deren Zeit auf der Station und deren Gefühle, als sie erstmals Polarlichter flimmern und leuchten sah, hat Julia Gutting deshalb bewusst nicht gelesen: „Ich möchte meine eigenen Erfahrungen sammeln, ohne Vorurteile. Nichts lesen, was mich in irgendeine Richtung beeinflusst.“
Prinzipiell fehle ihr auf der Polarstation -abgesehen von frischem Gemüse und Salat -kaum etwas, sagt Julia Gutting. „Zu Weihnachten konnten wir uns Geschenke hierherschicken lassen, und unser Koch hat uns noch mehr als sonst verwöhnt. Wir haben hier sogar eine Sauna, was in der Antarktis nicht die schlechteste Idee ist, und jeden Sonntag pflegt unser Team ein liebgewonnenes Ritual: Wir schauen uns gemeinsam den Tatort an. Man kann schon sagen, dass wir eine Art kleine Familie hier bilden.“
Und die Angst? Was, wenn auf der Station, was, wenn ihr selbst als einziger Ärztin etwas Schlimmes passieren sollte – oder in der Heimat? „Damit habe ich mich lange auseinandergesetzt“, sagt Julia Gutting, „und mich am Ende bewusst darauf eingelassen. Ich habe die Zeit vor der Reise im Kreise meiner Familie sehr bewusst wahrgenommen. Ich weiß: Nicht nur das Jahr in der Antarktis ist vergänglich, sondern auch das Leben.“